Der 1. Mai stand in diesem Jahr unter einem besonderen Stern. Auf der einen Seite die Krise rund um die COVID-19 Pandemie, welche die Wichtigkeit des Tags der Arbeit noch mehr zum Vorschein bringt, weil die Rechte vieler Arbeitnehmenden in Gefahr sind. Auf der anderen Seite der gesundheitliche Aspekt, welcher grosse Menschenansammlungen aufgrund des hohen Übertragungsrisikos des Virus nicht zulässt. So entschied das 1.-Mai-Komitee, zusammen mit dem Gewerkschaftsbund, schon frühzeitig und richtigerweise, dass Solidarität in diesem Jahr bedeute, sich nicht zu Tausenden auf den Strassen von Zürich zu versammeln. Folgerichtig wurden die offizielle 1. Mai-Demonstration wie auch das Fest abgesagt.

Von der Stadtpolizei hätte man nun ebenso viel Zurückhaltung und Fairness erwartet. Denn die Vorzeichen standen ungünstig für die Grundrechte der freien Meinungsäusserung und die Versammlungsfreiheit. Der Kanton, vertreten durch die Oberstaatsanwaltschaft, liess verlauten, dass am 1. Mai keinerlei öffentliche Kundgebungen geduldet werden dürften. Teilnehmende einer solchen Kundgebung seien nach dem Veranstaltungsverbot gemäss der COVID-19 Verordnung zu verzeigen. Der juristische Trick war durchdacht: Beim Verstoss gegen das Veranstaltungsverbot handelt es sich um ein Vergehen, während die blosse Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration oder der blosse Verstoss gegen das Versammlungsverbot eine Übertretung ist. Statt einer Busse drohten plötzlich Freiheitsstrafen.

Wir Grünen halten dagegen fest, dass es rechtlich höchst umstritten ist, wenn die Oberstaatsanwaltschaft aus «Teilnehmenden» einer Kundgebung einfach «Veranstaltende» macht. Wir stellen auch fest, dass die Vorgabe in einem eindeutigen Widerspruch zu den Vorgaben des Bundesamtes für Gesundheit stand, wonach öffentliche Meinungsäusserungen unter Einhaltung der Distanz- und Hygienevorschriften weiterhin zulässig seien.

Was am 1. Mai folgte, war bedenklich und unverhältnismässig. Die Polizei löste nicht nur öffentliche Meinungsäusserungen von fünf oder weniger Personen auf, welche unter Einhaltung des Distanz- und Hygienevorschriften ihre Meinung in den öffentlichen Raum trugen und sprach Wegweisungen aus oder verhaftete diese Personen sogleich, sondern sie hängte auch sämtliche Transparente oder Fahnen ab, welche im öffentlichen Raum aufgehängt wurden und beschlagnahmte diese.

Trotz entsprechender Vorankündigung hatte die Polizei für ihren rigorosen Einsatz wohl ein Rechtfertigungsproblem. So liess sich Mediensprechen Marco Cortesi vor diversen Medienschaffenden zu Falschaussagen hinreissen, um einen Polizeieinsatz am Bellevue zu rechtfertigen. Das 1. Mai Komitee hatte zur Stellungnahme Einsicht in die Videoaufnahmen von Schweiz Aktuell, die den Polizeisprecher klar ins Unrecht versetzen.

Soviel zum verunglückten Polizeieinsatz. Ebenso wichtig aber ist die politische Debatte. Wir Grünen haben bereits letzte Woche an dieser Stelle klargestellt, dass es dringlich ist, die Grundrechte wiederherzustellen. Die Grünen wurden deshalb gestern im Nationalrat mit einer Interpellation vorstellig. Es kann nicht sein, dass Warteschlangen vor Einkaufszentren und Baumärkten aus gesundheitlicher Sicht möglich sind, dass auf Baustellen und in Take-Away-Küchen selbst während dem «Lockdown» ohne Kontrollen weitergearbeitet werden kann, dass aber Kleinstgruppen im öffentlichen Raum keine Meinungen kundtun dürfen. Wir Grünen können die Haltung «Konsum ja – Meinungsäusserung nein» nicht unterstützen. Der demokratische Rechtsstaat ist ein hohes Gut. Gipfeli aus einer Warteschlange vor dem Beck am 1. Mai sind es nicht. Wir erwarten daher eine schonungslose Aufarbeitung der Vorkommnisse rund um den 1. Mai, und wir sind nicht dagegen, dass sich die Stadtpolizei auch entschuldigt, wenn sie zur Einsicht kommt, am 1. Mai Fehler gemacht zu haben.